„Die Gemeinschaftsverpflegung übernimmt heute mehr Verantwortung als die Spitzengastronomie“

Etwa 16,5 Millionen Essen bringen die Betriebe der Gemeinschaftsverpfle-gung täglich auf den Tisch – Tendenz steigend. Beim Students‘ Executive Talk am 20. Februar 2019 an der DHBW Heilbronn sprachen Otto Geisel, Lebensmittelexperte und Ehrensenator der DHBW, und Egmont Merté, Leiter der Gastronomie der Allianz München und Dualer Partner, über die Kantine der Zukunft und wie sie unser Leben gestalten kann.

Die Gemeinschaftsverpflegung ist eine Branche mit Wachstum, nicht zuletzt durch das gestiegene Angebot an Schulen und KITAs. Aufgrund des demographischen Wandels gibt es auch immer mehr ältere Mitbürger, die in Pflege- und Altenheimen versorgt werden. Also eine Branche mit Zukunft? Leider kämpfen ihre Mitarbeiter mit den ökonomischen Zwängen und dem Fachkräftemangel. Allein die Zahl der Kochazubis ist in den letzten sechs Jahren um 56 Prozent gesunken. Dabei arbeitet vor allem die Betriebsgastronomie am Puls der Zeit. Themen wie Nachhaltigkeit, Gesundheit, Genuss und Technologie fließen in den täglichen Speiseplan ein.

Neues Rollenverständnis der Kantinen
Otto Geisel, ehemaliger Präsident von Slow Food Deutschland und Mitbegründer des Studiengangs Food Management an der DHBW Heilbronn, nimmt kein Blatt vor den Mund: „Köche in einer Kantine übernehmen heute mehr gesellschaftliche Verantwortung als jeder Sternekoch.“ Während es den Topleuten der Branche vor allem auf die Komplikation der Zubereitung ankommt, spielen Themen wie Nachhaltigkeit oder Gesundheit eine zweitrangige Rolle. Geisel weiß, wovon er spricht. Nach seiner Ausbildung als Koch und Hotelfachmann leitete er über 25 Jahre das Hotel Victoria in Bad Mergentheim.

Aus der Versorgungspflicht heraus entstanden sind die Betriebsgastronomen heute vor allem Dienstleister der Mitarbeiter. Eine gute Kantine zeigt die Wertschätzung gegenüber den Arbeitnehmern und ist ein wichtiger Teil des Employer-Branding. Google hat das bereits als kleines Startup verstanden: Als Page und Brin 1996 Google als Universitätsprojekt gründeten, haben sie einen eigenen Koch eingestellt. Sie erkannten außerdem, dass das Miteinander am Tisch einen Think Tank ersetzt: Google Chrome wurde in der Kantine erfunden.

Hinter den Kulissen des ersten Kantinentests
Auch heute über drei Jahrzehnte später ist die Kantine von Google Vorreiter. Beim ersten deutschen Kantinentest, den der Verein Food and Health gemeinsam mit Focus ins Leben rief, belegte Google einen der ersten Plätze. Gemüse spielt auf den Tellern des Internetkonzerns die Hauptrolle, die Präsentation wird regelrecht inszeniert. Softdrinks wurden in die Getränkeautomaten hinter Mattglas verbannt. Der Konsum von Coke und Co. konnte so um 30 Prozent reduziert werden.

Und es gibt noch viele andere innovative Beispiele: In den Küche von Vector kochen Sterneköche des Restaurants Traube-Tonbach für die Mitarbeiter. Die Zutaten sind alle tagesfrisch, zubereitet wird das Essen im Frontcooking. Ab 14 Uhr können Mitarbeiter die Reste kaufen und mit nach Hause nehmen. Bei Beiersdorf wurde das Konzept des Familientischs neu belebt: An einem runden Tisch treffen sich Mitarbeiter aus allen Abteilungen. Aus den Töpfen in der Mitte des Tischs essen alle gemeinsam.

„Schon heute sehen sich Betriebsgastronomen als Multiplikator und Initiator für eine gesunde und verantwortungsvolle Ernährung. Mit dem Kantinentest haben wir diese Kantinen sichtbar gemacht und sie in ihrem Handeln gestärkt“, so Geisel. Bei den 200 Test-Teilnehmern wurde untersucht, wie sich der Dreiklang aus Nachhaltigkeit, Gesundheit und Genuss in den Speiseplänen und im Ambiente widerspiegelt. Zunächst wurden die Speisepläne nach den Kriterien Regionalität, Saisonalität und Kreativität bewertet, danach Interviews in den Unternehmen geführt. Dabei legte die Jury über 10.000 Kilometer auf der Straße und etliche Flugmeilen zurück. Pro Tag wurden zwei Kantinen besucht, eine am frühen und eine am späten Mittag.

Kantinen sind Dienstleister 
Für Egmont Merté, dem GuV-Manager des Jahres 2015 und einen der Preisträger des Kantinentests, sind die Mitarbeiter der Betriebsgastronomie nicht nur Lebensmittelexperten, sondern vor allem Dienstleister mit Leidenschaft. Was diese Einstellung bewirken kann, zeigt das Rundum-Konzept der Allianz-Betriebsgastronomie: Pro Tag stellt das Mitarbeiter-Restaurant 1.700 Essen bereit. Zusätzlich kann sich im ehemaligen Prokuristen-Casino und heutigem „Garden Restaurant“ heute jeder Mitarbeiter einen Tisch reservieren und à la carte und per Tablet sein Menü zusammenstellen. Im Bistro werden vor allem leichte Snacks wie Detox-Säfte und Salat angeboten; die Barista-Bar serviert pro Tag 1.000 Kaffeespezialtäten.

Dabei spielen die Themen Nachhaltigkeit und Ökologie eine tragende Rolle: Plastikbecher wurden durch Pfand-Keramikbecher ersetzt. Auf den Speiseplan kommt lediglich Schweinefleisch vom Strohschwein, Bio-Geflügel und Fisch mit einer eigenen Fischzertifizierung. Dafür schloss das Unternehmen Kooperationen mit regionalen Bauern und kann jetzt den gesamten Prozess von der Stallaufzucht bis hin zur eigenen Schlachtung kontrollieren.

Neue Konzepte für die Fachkräftegewinnung
Doch die Leuchttürme in der Gemeinschaftsversorgung sollen nicht nur andere Unternehmen inspirieren. Die positive Berichterstattung trägt dazu bei, das angeschlagene Branchenimage aufzuwerten. Das ist für die Gewinnung von Fachkräften – eine der Achillesfersen der Branche – unschätzbar. Egmont Merté setzt beim Recruiting inzwischen auf mehrere Standbeine. Das Unternehmen bildet seine eigenen Köche und Restaurantfachkräfte aus. Gleichzeitig arbeiten sie mit der Fachakademie München und der Dualen Hochschule zusammen, um den Mitarbeitern nach der Berufsausbildung weitere Perspektiven bieten zu können.

Gemeinschaftsverpflegung Zukunftsfeld der Lehre
Für die DHBW Heilbronn nimmt das Thema Gemeinschaftsverpflegung einen wichtigen Platz ein, so Rektorin Prof. Dr. Nicole Graf. „Wir haben nicht nur duale Partner in diesem Bereich. Was und wie Mitarbeiter in Betrieben essen, ist interessant für all unsere Studierenden, seien es die zukünftigen Food Manager oder Händler. Und letztendlich ist jeder davon betroffen – als Konsument.“

Man merkt, dass sich die Studierenden sich bereits aktiv mit dem Thema auseinandergesetzt haben. Das zeigten die Fragen am Ende des Vortrags. Was kleine Firmen mit einem niedrigen Budget machen können, wollten Studierende wissen. Der Vorschlag der Experten: Die Firma engagiert und bezahlt einen Koch, die Mitarbeiter kümmern sich um die Zutaten.