Interview mit Paul Kleebinder: "'Vote with your fork' alleine reicht nicht"

Paul Kleebinder (24) hat BWL-Food Management an der DHBW Heilbronn studiert. Inzwischen arbeitet er als Bundesfreiwilliger bei Slow Food Deutschland e.V.. Er spricht über die politische Bedeutung von Essen, globale Handlungsbedarfe in der Ernährungsindustrie, die Chance der Digitalisierung und auch darüber, wie ihn sein Studium geprägt hat.

Sie haben letztes Jahr Ihr duales Studium BWL-Food Management erfolgreich abgeschlossen und arbeiten inzwischen für Slow Food Deutschland in Berlin. Womit beschäftigen Sie sich gerade?

Mein Fokus ist aktuell die Slow Food Youth Akademie. Dieses Weiterbildungsprogramm richtet sich an junge Menschen aus allen Bereichen der Lebensmittelwertschöpfungskette. Über acht Wochenenden hinweg reisen wir an verschiedene Orte in Deutschland und beschäftigen uns mit Alternativen zum aktuellen Lebensmittelsystem. Das Programm orientiert sich entlang verschiedener Lebensmittelwarengruppen, dazu kommen übergreifende Themen, zum Beispiel die Ernährung weltweit, der globale Handel oder die Ernährungspolitik. Mit der Slow Food Youth Akademie, die nächstes Jahr schon in die fünfte Runde geht, hat Slow Food Deutschland eine Plattform für Austausch, theoretischen Input und praktisches Anpacken geschaffen. Dabei ist es ganz egal, ob wir gerade in der Backstube, auf dem Acker oder in den Büros der Politik in Brüssel sind. Pro Jahr werden dafür 25 Teilnehmer*innen ausgewählt, die sehr unterschiedliche Hintergründe haben: Köch*innen, Produzent*innen, Landwirt*innen, Händler*innen – in der Ausbildung, im Studium oder bereits fertig – , aber auch ganz andere Berufsgruppen wie Journalist*innen, Ärzt*innen oder Soziolog*innen – es ist alles dabei! Außerdem unterstütze ich die Slow Food Youth Koordination und bin involviert in die Programmplanung für „Terra Madre“. Das ist die größte internationale Slow Food Veranstaltung, die in diesem Jahr nicht wie sonst in Turin, dafür aber in globaler Zusammenarbeit des Slow Food Netzwerks dezentral und in einer Mischung aus Online- und Präsenzveranstaltungen stattfindet.

Welche Inhalte des Studiums haben Sie besonders begeistert? Gab es Themen, die Sie auch in Ihrem jetzigen Beruf begleiten bzw. die Ihnen sehr wichtig sind?

Was ich am Studiengang Food Management sehr schätze ist, wie breit gefächert er angelegt ist. Spannende Fächer meines Studiums waren die Module Ernährungspolitik, Farm to Fork sowie Kulturgeschichte der Ernährung und Gastlichkeit. Wer das Lebensmittelsystem nicht nur verstehen, sondern verändern will, braucht auch Themen wie VWL, Nachhaltigkeitsmanagement und Lebensmittelrecht. Diese ganzheitliche Betrachtung der Lebensmittelwelt hat mich begeistert. Mein Highlight des Studiums waren aber ganz klar die praktisch erlebbaren Warenkundefächer mit Exkursionen. Wir haben in einer Metzgerei zum Beispiel die Schlachtung und Zerlegung erlebt, haben einen Tag auf dem Feld eines Gemüseproduzenten verbracht oder waren zur Warenkunde auch mal direkt im Weinberg.

Die Corona-Krise hat gezeigt: In der globalen Fleischindustrie besteht Handlungsbedarf, unzumutbare hygienische Bedingungen und Dumpinglöhne wurden entlarvt. Die große Ära von Big Food scheint vorbei zu sein. Wie kann ein Neuanfang nach der Corona-Pandemie gelingen?

Die Probleme, die nun im Zuge der Corona-Pandemie ans Licht kommen, sind nicht neu. Diese Fehlentwicklungen müssen wir gemeinsam mit allen Beteiligten und der Politik korrigieren. Es ist Zeit für einen Systemwandel. Kulturelle, soziale, technologische, ökonomische und politische Aspekte haben Einfluss auf das Lebensmittelsystem; Staaten und Firmen sind involviert; Strukturen sind zum Teil verwachsen, außerdem gibt es Abhängigkeiten von bestimmten Ressourcen. Eine zentrale Frage, vor der wir meiner Meinung nach stehen, ist, wie wir es schaffen, die Legislative soweit zu stärken, dass sie fähig ist, der Innovationsgeschwindigkeit der Industrie zu folgen. Rechtliche Rahmen für neue Technologien müssen – unter Einbezug der Sustainable Development Goals (SDGs) der Vereinten Nationen – schnell geschaffen werden, um Innovation zu fördern. Gleichzeitig müssen kurzfristig profitversprechende Unternehmungen, die auf Kosten des Gemeinwohls wirtschaften, stärker reguliert werden. In diesen Prozess müssen alle Akteure der Wertschöpfung einbezogen werden – auch diejenigen, die normalerweise nicht die größte Stimme am Verhandlungstisch haben. Wir müssen zum Beispiel die Stimmen von Bäuer*innen und Lebensmittelhandwerker*innen stärken und bedenken, welche Auswirkungen unser Handeln auf lokale und globale Produktionssysteme hat. In einem globalisiertenSystem hat jede kleine Änderung, die wir beispielsweise auf EU-Ebene beschließen, auch umfassende Auswirkungen auf Millionen von Menschen des globalen Südens.

Ich denke, dass es schlauer ist, jetzt zukunftsfähige und resiliente Lösungen umzusetzen, als später vor einem noch größeren Scherbenhaufen zu stehen. Bestes Beispiel dafür ist der dramatische Rückgang der Biodiversität, der unter anderem bedingt ist durch die Art und Weise, wie wir die Kulturlandschaft durch eine zunehmend intensivierte Landwirtschaft gestaltet haben. Die Artenvielfalt wiederherzustellen wird sehr schwierig bis unmöglich werden. Als einen der wichtigsten Treiber für einen sozialen Wandel sehe ich eine weltweite Verantwortung für schlechte Arbeitsbedingungen und Menschenrechtsverletzungen entlang der Lieferketten. Das nimmt nun in Form des Lieferkettengesetzes langsam Fahrt auf. Der Schlüssel zum Neuanfang ist eine umfassende Ernährungsbildung, um die Zusammenhänge des Systems zu verstehen, neue nachhaltige Lösungen zu entwickeln und viele Menschen mit auf diesen Weg zu nehmen.

Essen ist auch immer ein politischer Akt: Die Art wie und was wir essen, hat unmittelbare Auswirkungen auf unsere Gesundheit und den Klimawandel. Wie sieht die Ernährungswelt der Zukunft aus, welche neuen Verfahren, Produkte und Ideen rücken in den Vordergrund?

Gesundheit und Klimawandel gehen Hand in Hand, das zeigt die Corona-Krise sehr deutlich. Menschen können nicht gesund sein, wenn die Erde nicht gesund ist. Die Wahl des Essens, das wir uns jeden Tag auf die Gabel packen, ist mit das mächtigste Werkzeug, das wir alltagspolitisch haben. „Vote with your Fork!“ alleine reicht aber nicht. Verbraucher*innen können den Wandel nicht alleine vorwärtsbringen. Es braucht politische Rahmenbedingungen, Anreize und geänderte Subventionssysteme, auf nationaler Ebene ebenso wie in der gemeinsamen Agrarpolitik der EU. Gesunde, nachhaltig produzierte und faire Lebensmittel müssen für alle finanziell zugänglich gemacht werden. Davon profitieren langfristig alle. Bei den Verbraucher*innen braucht es dafür meist auch keine große Überredenskunst: In einem nachhaltigen Sinne hergestellte Lebensmittel schmecken schließlich auch besser. Genuss und Verantwortung zu verbinden, das ist Slow Food.

Welche Rolle spielt die Digitalisierung, damit eine sozio-ökologische Wende gelingt?

Ein wichtiger Punkt ist sicher, dass wir mithilfe der Digitalisierung Ideen, Menschen und Initiativen leichter verbinden können. Außerdem können Lieferketten datengestützt transparent dargelegt werden. Ich denke, dass wir die Möglichkeiten noch besser nutzen sollten, um Stadt und Land sowie Produzent*innen und Verbraucher*innen besser zu verbinden. So können auch neue Formen des solidarischen Wirtschaftens, etwa die solidarische Landwirtschaft (SoLaWis) gestärkt werden.