Retail Innovations Days 2020: Herausfordernde Zeiten für den Handel

In diesem Jahr erlebten die fünften Retail Innovation Days des Studiengangs BWL-Handel an der DHBW Heilbronn ihre Online-Premiere: Aufgrund der steigenden Corona-Fallzahlen fand die Veranstaltung in diesem Herbst (fast nur) im digitalen Raum statt. Prof. Dr. Nicole Graf begrüßte gemeinsam mit Prof. Dr. Stephan Rüschen mehr als 350 Teilnehmer*innen am Bildschirm. Auch dieses Jahr legten die Referent*innen den Finger an den Puls der Zeit: Ist künstliche Intelligenz ein guter Diener oder beherrscht sie bereits die Management-Entscheidungen? Wie steht der deutsche Lebensmittelhandel zum Thema Nachhaltigkeit? Wie können Händler*innen Social-Media-Kanäle am besten nutzen? Vertreter*innen aus Handel, Wissenschaft, der Start-up-Szene und Politik nahmen Stellung und präsentierten Best-Practice-Beispiele.

Zum Einstieg diskutierte Lebensmittel-Experte Prof. Dr. Stephan Rüschen mit Christoph Werner, seit August 2019 Vorsitzender der Geschäftsführung der dm–drogerie markt GmbH + Co.KG, über den Einsatz künstlicher Intelligenz.

dm-drogerie markt – nah am Kunden, nah am Mitarbeiter

Die Tante Emma-Läden haben es vorgelebt: die Verbraucher*innen und ihre Bedürfnisse kennen, ein persönliches Angebot machen und einen Mehrwert bieten. Das gelingt der Drogeriekette dm heute wieder, z.B. mit Hilfe der App „Mein dm“. So können intelligente Algorithmen gleichzeitig auf die Vorlieben von Millionen von Verbraucher*innen eingehen, vorausgesetzt, die Daten sind vorhanden. Auch in der Logistik-Planung und beim Forecast der Ware ist künstliche Intelligenz bei Deutschlands größter Drogeriemarktkette mit deutschlandweit 2.000 Filialen im Einsatz. Werner kann sich vorstellen, dieses Instrument künftig häufiger im Marketing einzusetzen und nach dem Vorbild der Fluggesellschaften zu einer individuellen Bepreisung der Waren zu gelangen.

Stichwort COVID-19: Aktuell beschleunigt die Corona-Pandemie bereits existierende Entwicklungen. Die Kunden nehmen Online-Bestell-Angebote, die es bei dm seit 2015 gibt, gut an. Auch die Express-Abholung (Click and Collect) wird nachgefragt und soll, davon ist Christoph Werner überzeugt, nach Abklingen der Pandemie als Angebot bestehen bleiben.

Besonderes Augenmerk legt man in der Karlsruher Firmenzentrale auf die Qualifizierung und die „Innovations-Fitness“ der Mitarbeiter*innen. Sie sollen so veränderungsfähig und -willig sein, so dass Prozesse weiterentwickelt und an die Kundenbedürfnisse angepasst werden können. So sind z.B. in den dm-Märkten Smartphones im Einsatz, um die Click and Collect-Aufträge schnell und reibungslos abwickeln zu können. Die dm-Mitarbeiter*innen sollen digitale Tools und Neuerungen als Ermächtigung, nicht als Bedrohung oder Überforderung erleben, dann -– so Werners Credo – stiegen die Akzeptanz und die Bereitschaft, neue Wege zu gehen.

Digital Competence Lab: Veränderungen als Chance begreifen

Sven Göth, CEO beim Digital Compentence Lab, bezeichnet sich selbst als „business futurist“, der einen ganz speziellen Fokus auf den deutschen Mittelstand legt. Der soll in unsicheren Zeiten fit für die digitale Zukunft gemacht werden. Die wichtigsten Kompetenzen liegen seiner Überzeugung nach in der Innovationsfähigkeit, der Digitalisierungsfähigkeit, der Teamfähigkeit, der Kenntnis der Kunden und dem Mut zur Veränderung. Dies illustrierte er mit zahlreichen spannenden Beispielen: So bedeuten unerwartete Veränderungen Chance und Gefahr gleichzeitig: 2001 war die Entscheidung von Blockbuster Video (zu dieser Zeit mit ca. 8.000 Filialen weltweit der größte Videoverleiher), Netflix nicht zu kaufen die wohl schlechteste Business Entscheidung der dort Verantwortlichen. Ende 2005 zählte das kalifornische Start-Up bereits 4,2 Mio. Abonnenten, der Jahresgewinn 2006 betrug 80 Millionen Dollar. Ähnlich unerwartete, exponentielle Veränderungen bringt auch der 3D-Druck mit sich: Wer hätte sich noch vor Kurzem vorstellen können, Sportschuhe oder ganze Häuser aus dem Drucker geliefert zu bekommen - oder gar menschliche Organe? Es komme darauf an, so Göth auf die Schlussfrage von Stephan Rüschen, die Auswirkungen von Veränderung, z.B. in den Technologien oder der Demografie auf das eigene Unternehmen und seine Produkte möglichst frühzeitig zu erkennen und zu integrieren oder sich die passenden Kooperationspartner zu suchen. Nur dann kann ein Unternehmen den*die Kunden*Kundin von morgen an sich binden.

Nachhaltigkeit: Aufklärung der Verbraucher*innen an erster Stelle  

Die zweite Session war ein gelungener hybrider Balanceakt: Die sechs Live-Teilnehmer*innen Staatssekretärin Friedlinde Gurr-Hirsch, Gastgeberin Prof. Dr. Beate Scheubrein, Edeka-Händler Steffen Ueltzhöfer, REWE-Pressesprecherin Sabine Stachorski und Michaela Meyer, Nachhaltigkeits-Expertin von Edeka Südwest, saßen im modernen Bibliotheks-Studio auf Einzelplätzen und „ohne Butterbrezeln“, wie der Moderator Jürgen Wippel mit etwas Bedauern bemerkte. Dr. Elisabeth Koep von der Schwarz-Gruppe, Sabine Hagmann vom Baden-Württembergischen Handelsverband und Prof. Dr. Sabine Bartsch von der TU Berlin waren aus Neckarsulm, Stuttgart und der Hauptstadt zugeschaltet und diskutierten gemeinsam mit den Studiogästen das Thema Lebensmittelverschwendung.

Zwölf Millionen Tonnen Lebensmittel landen jährlich in Deutschlands Müllcontainern. Gerade junge Leute sind für Lebensmittelverschwendung sehr anfällig, wie die DHBW-Consumer-Studie unter Federführung von Beate Scheubrein beweist: Studierende werfen doppelt so viel weg wie der Durchschnitt - oft, ohne die Packung geöffnet zu haben und bei einem deutlich geringeren Budget. Doch auch hier hat Corona neue Denkprozesse angestoßen: Eine lückenlose Versorgung, Lebensmittel und regionale Erzeuger werden wieder wertgeschätzt. „Jetzt gilt es, diese Wertschätzung auch in fairen Preisen weiter zu geben – mit einem Obolus vor allem an die regionalen Erzeuger*innen“, so Michaela Meyer. Entgegen vieler Annahmen verursacht der Handel nur bis fünf Prozent der Lebensmittelverschwendung. Darum ist die Erziehung der Verbraucher*innen – darin waren sich Filialisten, die Verbrauchervertreter*innen, Händler*innen und Wissenschaftler*innen in der Diskussion einig – entscheidend. „Schmecken, riechen, auf die eigenen Sinne verlassen und Lebensmittel auch nach Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums nicht gleich wegwerfen“, lautet die Empfehlung von Bartsch und Gurr-Hirsch.

Neben dem Mindesthaltbarkeitsdatum wurden auch Fragen zu XXL-Verpackungen, zum Containern und der aktuellen Gesetzgebung zur Lebensmittelverschwendung beantwortet.  Dabei machten die Anwesenden deutlich, dass das Thema nicht nur viele Facetten hat, sondern Verbraucher*innen auch oft überfordert. Darf man die Bio-Gurke im Plastikstrumpf kaufen? Ohne Plastikverpackung verlöre die Gurke mehr Wasser und an Festigkeit, darum wird sie oft entsorgt. Das wiederum führt zu einer noch schlechteren Ökobilanz. Wer eine unverpackte Gurke kauft, sollte sie daher schnell verzehren, bevor sie bei den anderen 12 Millionen Tonnen im Müll landet.

Neue Marketing-Ära Social Media: Näher dran an der Zielgruppe

Die Werbebudgets für Social Media sind in den letzten Jahren kontinuierlich gewachsen, Social Media ist nahezu überall angekommen. Knapp die Hälfte der Weltbevölkerung nutzt laut Hootsuite Social Media; das sind 3,6 Milliarden Menschen rund um den Globus. Wie Social Media Marketing funktioniert und was hinter dem Hype steckt, darum ging es am zweiten Tag der Retail Innovation Days.  Prof. Dr. Oliver Janz, Mitveranstalter der Retail Innovation Days 2020 und Professor für BWL-Fashion Management an der DHBW Heilbronn, ist sich sicher: „Social Media Ads sind zum festen Bestandteil im Marketing geworden. Ein Drittel der Kaufentscheidungen werden nachweislich von Social Media Ads beeinflusst, ein Fünftel von Influencern.“ Mit seinen Gästen Christian Hackel (Deichmann), Mona Buckenmaier (Riani), Julian Franke (JUNO Fashion) und Isabell Alber (Camao) sprach er über die größten Herausforderungen und Best Practices im Social Media Marketing.

Wenig Streuverluste

Christian Hackel, Marketingleiter bei Deichmann, sieht den größten Vorteil beim Social Media Marketing im geringen Streuverlust von Werbung: „Mit Ads in Social Media kann man sehr viel bewegen und bei der Zielgruppe nachgewiesenermaßen einen guten Kaufimpuls erzeugen“. Deichmann profitiere insbesondere von sehr viel kostenlosem User Generated Content, der sich fotografisch kaum noch von professionellen Fotos unterscheiden lasse.

Influencermarketing für alle Zielgruppen

Mona Buckenmaier, Head of Business Development des schwäbischen Luxus-Modelabels Riani, setzt auf Influencer Marketing: Frauke Ludowig, Alexandra Lapp, Füsun Lindner, Alexandra und Clarissa Handel posten im Auftrag für Riani. Jede Influencerin steht für einen anderen Frauentyp und spricht mit ausgewählten Styles eine andere Zielgruppe an. Um den Userinnen ein möglichst echtes, authentisches Modeerlebnis zu vermitteln, investiert das Unternehmen insbesondere in Bild- und Videomaterial. „Wir spielen unseren Content parallel überall, weil es nur dann zur einer passenden Awareness kommen kann“, so Buckenmaier.

Marketing-Instrument „Drop“: Begehrlichkeiten schaffen durch Verknappung

Von der anderen Seite blickt Julian Franke auf das Thema: Seine Agentur JUNO Fashion hilft Influencern dabei, nicht nur eine eigene Marke, sondern auch gleich eine eigene Modekollektion aufzubauen und die auch zu vermarkten. Sein wichtigstes Marketing-Instrument sind Drops. Diese künstliche Verknappung von Produkten soll die Begehrlichkeit steigern. „Gerade junge Streetwear-Designer*innen nutzen Kontakte zu Rappern, die plötzlich eine extreme Reichweite erzielen und dann innerhalb von Minuten ausverkauft sind“, so Franke.

Interaktive Inhalte sorgen für mehr Kundenbindung

Gerade die Corona-Pandemie habe die sozialen Medien in der Marketingstrategie weiter nach vorne gebracht. Davon ist Isabell Alber, geschäftsführende Gesellschafterin der Agentur Camao überzeugt: „Die sozialen Medien sind eine Möglichkeit, trotz Pandemiebedingungen nah an der Zielgruppe zu sein.“ Für Kaufland entwickelte ihre Agentur eine Kampagne während des Lock-Downs im Frühjahr. Mit individualisierbaren Videos, einer Umfrage und einem Gewinnspiel konnten Nutzer*innen über die Social Media selbst zum Mitmachen und damit auch zum Teilen bewegt werden.

Tools für den besseren Überblick im Social-Media-Dschungel

Verschiedene Dienstleister*innen haben sich darauf spezialisiert, die inzwischen große Anzahl an Social-Media-Kanälen über ein Tool zu steuern und auszuwerten. Fanpage Karma, Facelift, Falcon, Funnel und StoryClash stellten ihre Lösungen in kurzen Powersessions vor. Dominic Harkness von Falcon findet besonders überzeugend, dass das Tool eine bessere Kollaboration verschiedener Mitarbeiter-Teams zulässt und einen guten Überblick über bereits veröffentlichte und geplante Posts gibt. Kevin Hinterreiter von Story Clash ist es wichtig, dass Key Words in Influcencer-Posts entdeckt und für eigene Hashtags verwendet werden können. Stefan Eyl von Fanpage Karma sieht einen Vorteil darin, sich die Performance von eigenen Posts und denen der Konkurrenz auf einen Blick anzeigen zu lassen. Für Corinna Storch von Funnel steht die Nutzer- und Bedienfreundlichkeit des Tools im Vordergrund. Christoper Battle von Facelift wies darauf hin, dass über das Tool auch der Datenschutz gewährleistet sein müsse. Die Dienstleister waren sich einig: die Tools sollen für mehr Übersichtlichkeit im Social-Media-Dschungel sorgen und den Social Media Managern die Erstellung von Posts und das Reporting erleichtern.