Wie funktioniert der Handel in Zukunft? Retail Innovation Days

Wo finden die nächsten Innovationen im Handel statt, wie bleiben Handelsunternehmen für die Kunden relevant und wie kann Nachhaltigkeit in der Unternehmensentwicklung gedacht werden? Renommierte Expert*innen und Start-ups präsentierten bei den siebten Retail Innovation Days der DHBW Heilbronn ihre Zukunftsstrategien und neue Geschäftsmodelle. Am 9. und 10. Juli füllte der mittlerweile drittgrößte Handelskongress Deutschlands die Aula am Bildungscampus. Fazit: Keine Entwicklung durchdringt alle Branchen und Geschäftsfelder so nachhaltig wie Künstliche Intelligenz. Und keine Branche geht momentan stärker in die Innovations-Offensive als der Handel. Das Handelsteam der DHBW Heilbronn mit Prof. Dr. Oliver Janz, Prof. Dr. Carsten Kortum, Prof. Dr. Stephan Rüschen, Prof. Dr. Beate Scheubrein und Prof. Dr. Daniela Wiehenbrauk begrüßte die über 500 Gäste in der Aula am Bildungscampus der Dieter Schwarz Stiftung. Fünf Professor*innen auf der Bühne standen für die Organisation von fünf spannenden Sessions mit 26 Expert*innen über zwei Tage hinweg: Retail Media, KI im Handel, Innovation Challenge, New Marketing und Nachhaltigkeit.

Retail Media – Hype oder Illusion?
Weder noch, möchte man nach den Vorträgen unserer Referent*innen antworten: Mit Zuwächsen von über zehn Prozent und als weltweit drittstärkster Werbekanal ist Retail Media nicht mehr wegzudenken. Die Chance, Kunden mit einer Vielzahl an Möglichkeiten direkt am Point of Sale anzusprechen, ist einfach zu groß. Wie es der einzelne Händler umsetzt, ist verschieden. Edeka Ueltzhoefer zum Beispiel nutzt Retail Media an ausgesuchten Orten (Eigenprodukte an der Fleischtheke) oder zu bestimmten Zwecken (Chicken Run der Zulieferhöfe). Eine weite Bandbreite an Möglichkeiten zeigt Ciril Hofmann mit Cyreen – einem Unternehmen, das Retail Media messbar macht, z.B. mit – DSGVO-konformen – RFID-Trackern an den Einkaufswägen. Mit den generierten Daten lassen sich die Laufwege nachzeichnen oder erkennen, ob der Kunde nach einer Getränkewerbung auch tatsächlich mehr Flaschen in Korb legt. So ist es z.B. für ihren Kunden Pro Getränke Service möglich zu sehen, welcher Zeit-Slot für welche Werbung am besten geeignet ist. Oder sogar bei wieviel Grad Außentemperatur mehr Wasser, aber weniger Süßgetränke konsumiert werden, freut sich Yannik Eberhardt,  Digital Officer bei Pro Getränke Service. Bis jetzt gibt es fünf Musterstores, bis 2025 sollen 40 Prozent der Partnerstores mit der Technologie ausgerüstet sein. Für Klaus Holger Kille von Brand Logistics Net ist Retail Media z.B. auch eine passende Verlängerung von Social-Media-Kampagnen. Jan Riße GF von Edgar Ambient Media wiederum schlägt vor, die langen Wartezeiten an den Kassen zu nutzen, um z.B. auch andere Produkte wie den Netflix-Film zu den Chips und Bier zu verkaufen.

KI im Handel – die neue Revolution 
In der ersten Session hat es sich schon angedeutet, aber eins ist klar geworden: Händler, die beim Einsatz von Künstlicher Intelligenz zögern, werden unter Umständen um Jahrzehnte zurückgeworfen. KI ist kein Hype, der schnell vergeht, sondern die einzige Technologie, die es dem Handel heute ermöglicht, Prozesse wirklich effizienter zu gestalten und bessere Entscheidungen zu treffen. Der Meinung ist auf jeden Fall Dr. Armin Müller, Global Head of Analytics von Kaufland. Erstaunlicherweise haben KI-Prozesse viel mit dem Backen eines Kuchens zu tun. Ein Beispiel: Wer nicht für hochwertige Zutaten – in dem Fall Daten sorgt – erhält auch mit einer erstklassigen KI nur minderwertige Ergebnisse. Markus Hacker, Senior Regional Director Enterprise von Nvidia zeigte, wie breit mittlerweile die Anwendungen im Handel über alle Prozesse hinweg gediehen sind: von Smart Stores über Guidance Systemen im Ladengeschäft bis hin zu Visual KI für den Diebstahlschutz. Wie Self-Checkout-Kassen heute Kassenpersonal und Kunden unterstützen, erklärte Christoph Annemüller von Diebold Nixdorf: Altersverifikation mit einer DSGVO-konformen Technik und die Fresh Produce Recognition sorgen für Entlastung des Kassenpersonals und kürzere Schlangen am Self-Checkout. 
Die Firma accenture arbeitet mit großen global agierenden Konzernen wie der Metro zusammen, was die Kooperation nicht nur vor sprachliche, aber auch kulturelle Barrieren stellt. Mit Ling.ai stellte Sonya Popat eine von accenture entwickelte KI-Lösung vor, die es ermöglicht, komplexe Prozesse, Daten- und Dokumentenaustausch über Grenzen und Länder hinweg reibungslos zu handhaben.

Resilienz als wichtigster Faktor im Skill Set 
Christoph Werner, Vorsitzender der Geschäftsführung der dm Drogerie Markt GmbH, beendete die Vortragssession und traf mit seinen Gesprächsthemen den Nerv der Branche: Von der Politik wünschte er sich zum Beispiel, dass auch für staatliche Rahmenbedingungen eine Sunset Clause zum Einsatz kommt und Gesetze nach einer bestimmten Zeit auf Relevanz überprüft werden. Flexibilität und Resilienz in Zeiten starker Veränderungen sind für ihn die Schlüsselattribute für geschäftlichen und persönlichen Erfolg. Daher lautete sein Rat an die 130 Studierenden im Saal, an ihrer Antifragilität zu arbeiten, um später aus Krisen und Veränderungen gestärkt hervor zu gehen. 

KI bringt Innovationen voran
Geschäftsmodelle, die nicht nur funktionieren, sondern messbaren Erfolg anhand von Umsätzen und Start-up-Preisen bewiesen haben, stellte Prof. Dr. Oliver Janz bei der Innovation Challenge vor: eine KI-basierte Zielgruppenmodellierung mit ERASON, vorgestellt von Christopher Dübe, die neue Retail-App-Forschung vom Startup Murmuras, einer universitären Ausgründung in Bonn, präsentiert vom Founder Qais Kasem, KI-basiertes Predictive Pricing mit dem Startup 7Learnings und Foodforecast Technologies GmbH, die mit ihrer Technologie nicht nur Foodwaste reduzieren, sondern auch stundenweise Prognosen für den Abverkauf von Artikeln liefern. Gewinner der Innovation Challenge 2024 und neuer Besitzer des Goldenen Innovations-Käthchens ist die Firma Murmuras. Gewählt wurde die innovativste Idee per Online-Abstimmung durch das Publikum. 

New Marketing & Nachhaltigkeit: Neue Stellschrauben für den Handel
Gestiegene Kundenerwartungen, neue Technik, Budgetkürzungen und Ermüdungserscheinungen bei bestimmten Kanälen – das sind die aktuellen Herausforderungen, mit welchen sich das Marketing intensiv auseinandersetzen muss. Wichtigstes Fazit: Der e-Commerce-Handel hat den stationären Handel keineswegs verdrängt. Ganz im Gegenteil. Weltweit bevorzugen die Menschen nach wie vor den stationären Handel - der indes durch den Megatrend Digitalisierung und Künstliche Intelligenz in den kommenden Jahren sein Gesicht und seine Wertschöpfungsmuster radikal verändern wird. Neue Ladenkonzepte, ein sehr viel agileres Preismanagement und mehr KI sollen helfen.

Eigenmarken haben Potential zur Love Brand
In der neuen DHBW-Handelsstudie von Prof. Dr. Carsten Demming und Prof. Dr. Carsten Kortum wurde die Bekanntheit und der Einfluss der Marke bei der Kaufentscheidung untersucht. Die Ergebnisse ermöglichen es, dass jeder Hersteller und Händler in einem ausgewählten Set von 15 Produkten sehen kann, wo die eigene Marke im Mindset der Konsument*innen eine Rolle steht. Fazit der Studie: Qualität und Geschmack eines Produkts stehen in der Bewertung der Kunden ganz oben. Im Umkehrschluss heißt das: Marken können sich nicht auf ihrem Image ausruhen, sondern müssen immer wieder überprüft werden. Eigenmarken haben mit einer gezielten Markenführung daher die Chance, zu echten Love Brands zu werden, wie das Beispiel der DIY-Marke Parkside beweist. 

„Nutzen Sie Schaufenster, um immer wieder neue Brands vorzustellen.“
Ist der Idee des Kaufhauses und des traditionellen Einzelhandels noch zu helfen? Dr. Alexander von Preen, Präsident des Handelsverbands Deutschland und CEO von Intersport Deutschland, ist sich sicher, dass das Schaufenster in der Innenstadt noch lange nicht ausgedient hat. Allerdings müsse dafür die Innenstadt sauber, sicher und gut erreichbar sein, um an Attraktivität zu gewinnen. Und es brauche auch im stationären Handel künftig Retail Media Konzepte, um neue Kauferlebnisse zu ermöglichen. Problematisch sieht von Preen vor allem die Produktschwemme von qualitativ minderwertigen Artikeln aus China. Hier müsse durch die Politik sichergestellt werden, dass für die Waren dieselben Rahmenbedingungen hinsichtlich europäischer Standards gelten, um nicht den Binnenmarkt kaputt zu machen: „Wir müssen uns stärker positionieren“ so sein Rat an die Politik.

Kundenbedürfnisse profitabel befriedigen
Um gewinnbringend zu wirtschaften, sieht Dr. Martin Fassnacht, Direktor des Lehrstuhls für Strategie und Management an der WHU – Otto Beisheim Schoof of Management, es als Aufgabe des Marketings, den Kunden und seine Bedürfnisse sehr genau zu kennen. Zielgruppen würden immer heterogener und kleinteiliger, die Kundenorientierung müsse Teil einer marktorientierten Unternehmensführung sein. Große Chancen sieht er in der Bündelung von Produkten, wie etwa einer Wochenend-Tüte beim Bäcker oder einem Osterpaket beim Discounter: „Hier liegen unfassbar viele Potenziale“. 

Preismanagement intelligent automatisieren
Dass in Zukunft beim Einkaufen viel mehr von der Preisdynamik abhängt, davon ist Michael Unmüßig, Senior Executive Vice President von SES Imagotec Group, überzeugt. Der Preis sei eines der wichtigsten Stellelemente im Handel, ein automatisiertes Pricing notwendig für ein aktives Marketing am Regal. Um schnell reagieren zu können, seien digitale Preisschilder nur der erste Schritt, es müssten auch stationär über Sensoren Daten gesammelt werden und die Möglichkeiten einer digitalen Regalverlängerung geschaffen werden. Amazon und Walmart sieht Unmüßig als große Treiber von Innovationen im Handel. 

Den Kunden zum Fan machen
Wie man mit bunten Winkekatzen Umsatz generiert, das erklärte Florian Berger, Inhaber und Gründer der Firma Donkey Products. Der Erfolg der Winkekatze sei ein Beispiel dafür, dass „wir aufhören müssen, Produkte zu verkaufen, sondern Geschichten und Entertainment“. Ladenkonzepte müssten neu gedacht werden, nicht mehr nach möglichst optimaler Flächennutzung ausgerichtet sein, sondern geplant, um Erlebnisse zu verkaufen. Shops müssten in Zukunft einzigartig aussehen und als Raumschiff, Schloss oder Garten daherkommen, um als Verkaufsfläche attraktiv zu sein. Helfen könnten auch Bananen und Äpfel zwischen Kosmetika oder Schubkarren statt Warenregalen. Ziel sei es, den Kunden zum Fan einer Marke zu machen und darüber Werte zu schaffen.

Eine neue Ära der Nachhaltigkeit läutet außerdem das Europäische Klimagesetz ein. Damit verpflichtet sich die EU, bis 2050 klimaneutral zu sein, Deutschland will es schon bis 2045 schaffen. Möglicherweise wird die Antwort auf den Klimawandel den größten Umbau der deutschen Wirtschaft seit der Industrialisierung erfordern. Reparatur, Barrierefreiheit und Sustainability Fashion Marktvorteile sichern nicht nur Marktvorteile, sondern lassen neue Retailkonzepte entstehen.

Neue Chancen durch die Nachhaltigkeitsberichtserstattung
Die Anforderungen an die Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen ändert sich grundlegend. Warum das aus Vorstandsperspektive positiv ist, erklärte Karin Dohm, CFO der Hornbach Holding. Die Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) erhöhe die Transparenz und Vergleichbarkeit, erklärte Dohm. Darüber seien Unternehmen verpflichtet, sowohl die Nachhaltigkeitsberichtserstattung ebenso wie die Finanzberichterstattung extern prüfen zu lassen. Aktuell machten Nachhaltigkeitsthemen erst 5-10% bei Managementsitzungen aus. Wenn Nachhaltigkeit nun zu einem finanziellen Thema und bepreist wird, werde sich das ändern. Hornbach sehe Nachhaltigkeit als eine der Kernvoraussetzungen für den langfristigen Erfolg und die Zukunftsfähigkeit der Gruppe, deshalb verkaufe Hornbach auch kein Feuerwerk mehr an Silvester.

Wie nachhaltig kann Mode sein?
Die Textilbranche hingegen scheint noch weit entfernt zu sein von einer nachhaltigen Produktion. „Nur ein Prozent der Kleidung wird wiederverwendet“, so Katja Wagner, Co-Founder der Turns GmbH.  Dennoch wittert sie gerade hier die größte Chance für die Branche. Altkleiderbestände wieder in Fasern bzw. Garn zurück zu verwandeln und neue Kleidung daraus herzustellen, sieht sie als wichtigen Teil des Geschäftsmodells: „Bis 2030 werden 133 Mio. Tonnen Rohstoffe fehlen, Textil-Recycling soll helfen, die Lücke zu schließen.“

Aber auch die persönliche Wertschätzung spielt bei einer nachhaltigen Produktion eine wichtige Rolle, weiß Ines Rust, CEO & Head of Design der DAWN GmbH. Ihr Start-up will die Distanz zwischen den Fabrikmitarbeiter*innen und der Kund*innen reduzieren und hat Trinkgeld für die Produzent*innen eingeführt. Über einen QR-Code an der Kleidung kann direkt an die Firma ein Trinkgeld überwiesen werden, das unabhängig vom Lohn ausgezahlt wird. 

Mit dem neuen Lieferkettentransparenzgesetz sieht Anna Schubert, Senior Consultant bei der Sustainable Thinking GmbH, die Branche auf dem richtigen Weg. Damit sei es nun auch gesetzliche Pflicht, Lieferketten besser zu überwachen, denn gerade hier entstünden 90% der Emissionen.